• Persönlicher Hintergrund / Übersicht

Als ich das erste Mal Tango sah, geriet ich in Ekstase und wusste sofort, dass ich ihn lernen muss. Diese Art von sofortiger „Sucht“ ist unter Tango-Praktizierenden ziemlich verbreitet. Erst in den letzten Jahren habe ich begonnen, einige der tieferen Gründe dafür zu verstehen, warum der Tango so stark zu den Menschen spricht und ruft (mehr dazu unten). Im Rückblick erkenne ich jetzt, dass der Tango auf einmal viele Lücken füllte, die ich in meinem Leben erfahren hatte – Mangel an einem sinnvollen kulturellen Ritual, Mangel an kreativem Ausdruck, Mangel an einer nicht-sexuellen körperlichen Interaktion, Mangel an einer regelmäßigen „Flow“-Aktivität – die Liste kann weitergehen. Nicht zuletzt war es für mich einfacher, innerhalb der Tango-Community Leute zu treffen, vor allem Frauen. Ich fand auch, dass die Tango-Community warmherzig, aber nicht aufdringlich war; ich hatte das Gefühl, dass es eine Möglichkeit war, aufrichtig mit anderen zu teilen, ohne eine große Verpflichtung einzugehen. Damals analysierte ich es nicht zu sehr, ich wusste einfach, dass ich etwas gefunden hatte, das mir wirklich Spaß machte. Ich begann in der Gegend von Miami – Fort Lauderdale zu tanzen, wo ich als Highschool-Lehrer für Physik und Mathematik arbeitete. Im Jahr 1996 zog ich nach New York City. Trotz der großen Vielfalt an Unterhaltungsmöglichkeiten hier, fand ich immer noch mehr Gefallen an den Milongas als an allem anderen. Ich tanzte mehr und mehr, und dann boten mir einige Leute an, als professioneller Tangotänzer und -lehrer zu arbeiten. Meine Karrierepläne waren schon eine Weile ungewiss, und so nahm ich die Gelegenheit gerne wahr, obwohl ich jetzt an der Weisheit dieser Entscheidung zweifle. Ich hatte sicherlich noch nicht lange genug getanzt, um mein Tanzen ins Rampenlicht zu rücken, und so entwickelte ich eine Menge kontraproduktiver Gewohnheiten. Auf der anderen Seite ließ mich mein professionelles Engagement für den Tango zunächst meine ganze Energie in ihn stecken, erlaubte mir, den Tango ohne Vorbehalte zu leben und zu atmen.

Zunächst schienen alle Aspekte meiner Tangoaktivität – Gesellschaftstanz, Unterricht, Auftritte – auf harmonische Weise miteinander verbunden zu sein. Aber dann begann ich allmählich, einige Dissonanzen wahrzunehmen. Ein bezeichnendes Ereignis geschah während meines allerersten Aufenthalts in Buenos Aires. Ich sah mir eine Show eines der besten Tango-Paare jener Zeit an. Die Geschwindigkeit, die Präzision und der Einfallsreichtum ihrer Choreografie waren sehr beeindruckend. Gleich nach der Show ging ich zu einer Milonga (öffentlicher Tango-Tanz). Ein paar ältere Paare waren auf der Tanzfläche, und als ich begann, sie zu beobachten, erlebte ich eine starke emotionale Reaktion, die die Profis nicht hervorgerufen hatten. Ich sah, dass es eine Essenz im Tanz der Milongueros gab, die es irgendwie nicht auf die Bühne geschafft hatte.

Die ganze erste Reise nach Buenos Aires war für mich eine Verzauberung. Ich sah Tango, der ein integraler Bestandteil der Kultur von Buenos Aires war. Ich sah Menschen, die ihn seit Jahrzehnten getanzt hatten, für die er ein natürlicher Teil des Lebens war. Ich sah ein kulturelles Ritual, bei dem Jung und Alt zusammenkamen und sich auf der Grundlage ihrer Liebe zu einer Kunstform und, was noch wichtiger ist, ihrer Ausübung dieser Kunstform austauschten. Ich verliebte mich in das Ganze, wie es viele Ausländer*innen tun. Wahrscheinlich wegen meiner Inbrunst und Verliebtheit in den Tanz wurde ich sehr herzlich empfangen – viele ältere Menschen ermutigten mich und teilten Geschichten und Ratschläge.

Je mehr ich zuhörte, je mehr ich während meiner Reisen nach Buenos Aires auf den Milongas beobachtete und tanzte, desto mehr spürte ich, dass es eine zentrale Essenz des Tangos gab, die nur auf den Milongas zu finden war und die Tango-Shows bestenfalls imitierten. Ich wurde entschlossen, dieses Geheimnis nicht nur zu entschlüsseln, sondern es auch in meine berufliche Tätigkeit einzubringen. Ich beobachtete die Alten, hörte auf ihre Ratschläge, lernte mit ihnen und versuchte, meinem Tanzen und meinen Auftritten so viel „Authentizität“ einzuhauchen wie ich konnte. Diese Versuche waren jedoch nicht sehr erfolgreich. Ich sah, dass vieles von dem, was die Alten mit einer natürlichen Leichtigkeit taten, sich für mich, wie auch für die meisten Tänzer*innen meiner Generation, ob argentinisch oder nicht, als sehr unangenehm herausstellte. Einige schrieben dies der jahrzehntelangen Übung zu, aber ich sah sehr deutlich, dass da noch etwas Anderes war. Die Alten schienen sich anders zu bewegen als die jüngere Generation, und ich sah, dass es ihre Grundbewegung war, die es ihnen ermöglichte, sich so gut mit dem Partner zu verbinden und in enger Umarmung so viel mehr und so viel besser zu tanzen. Schon die Art und Weise, wie sie standen und gingen, sah im Vergleich zu den jüngeren Tänzer*innen effizienter, eleganter und anmutiger aus. Der Kontrast war auch deshalb leicht zu sehen, weil der Tango etwa zwischen 1955 und 1985 aus der Mode gekommen, fast vergessen war, sodass in den 1990er Jahren die meisten Leute auf den Milongas entweder älter als 60 oder jünger als 30 waren.

Zuerst dachte ich, es gäbe irgendeinen Trick, irgendeine Technik, die sie mir in keiner der zahlreichen Unterrichtsstunden, die ich nahm, erklären wollten oder konnten. Ich machte mich daran, sie zu verstehen, indem ich beobachtete, imitierte, übte. Ich verbrachte Stunden, Tage, Monate mit dem Versuch, das Geheimnis des „Tangoschritts“ zu verstehen, mit sehr wenig Erfolg. Das war umso rätselhafter, als ich wusste, dass die meisten Tänzer*innen der älteren Generation, die ich bewunderte, nie eine Tanzstunde genommen und schon gar nicht an ihrem Gehen gearbeitet hatten. Ich war mit meiner Wahrnehmung des Problems nicht allein – viele ältere Tänzer*innen kommentierten die Unfähigkeit der Jüngeren, gut zu stehen und zu gehen, als das Haupthindernis für ihren Fortschritt. Aber sie konnten praktisch keine Einsicht anbieten, wie man dieses Problem beheben könnte. Das Tanzen mit einer Tangotänzerin der alten Generation fühlte sich deutlich anders an als das Tanzen mit einer gleichaltrigen Partnerin, auch wenn sie viel gelernt hatte. Viele junge Frauen berichteten, dass das Tanzen mit einem alten Milonguero eine Erfahrung höherer Ordnung war. Einige meiner Lehrer*innen erkannten zwar das Problem des Gehens an, aber sie versuchten alle, eine bestimmte Technik zu lehren, die bestenfalls „das Gehen“ imitierte, aber irgendwie nicht das Gehen selbst war. Manchmal bildete ich mir auch ein, die richtige Technik verstanden zu haben und begann sogar, sie meinen Schüler*innen beizubringen, aber am Ende musste ich mir immer eingestehen, dass ich das Thema nicht wirklich im Griff hatte.

Mehrere Jahre lang kämpfte ich mit der Frage des Gehens. Mein Tanzen fühlte sich etwas besser an durch stundenlanges Üben und einige bewusste oder unbewusste „Tricks“, die man erfindet, damit dieser Tanz funktioniert. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihm eine wesentliche Qualität fehlte, die ich in den Milongas von Buenos Aires gesehen und gelegentlich erlebt hatte. Es war nicht genug Leichtigkeit, Präzision, Spontanität darin. Ich spürte, dass der Tango eine viel intensivere Erfahrung sein könnte, ein „Flow“ höherer Ordnung, den viele der Alten regelmäßig zu erzeugen schienen. In seltenen Momenten erlebte ich solche Zustände, was meine Unfähigkeit, sie aufrechtzuerhalten, noch frustrierender machte.

Ich habe eine Weile gebraucht, um die Tatsache zu akzeptieren, dass die Alten von Natur aus etwas hatten, was unsere Generation nicht hatte. Noch länger brauchte ich, um zu verstehen, was man dagegen tun kann. Die Tatsache, dass man tatsächlich etwas tun kann, ist nicht wirklich gut bekannt. Ich habe viele Leute gesehen, die aufgehört haben, nachdem sie entschieden hatten, dass sie es einfach nicht „drauf haben“ oder sich nicht weiter verbessern konnten. Aber es stellt sich heraus, dass „es“ entwickelt werden kann, auch wenn es mehr Zeit und Mühe kostet, als die meisten Menschen erwarten würden.

Die entscheidenden Erkenntnisse kamen von außerhalb der Tangokreise, durch mein Studium der Alexander-Technik, Nei Kung, Tai Chi Chuan und Bioenergetik. Ich wurde auf einen Trend in unserer Zivilisation aufmerksam, der von der Mainstream-Kultur noch nicht anerkannt wird: Grob gesagt, vergessen wir wie man sich gut bewegt. Die Stimme des Instinkts im modernen Menschen wird immer schwächer, verblasst unter Schichten von konditionierten Reflexen. Alle Arten von Umwelteinflüssen und psychosomatischen Faktoren korrumpieren unsere körperlichen Funktionsweisen. Wir geraten buchstäblich viel mehr „aus der Form“, als gemeinhin verstanden wird. Es ist nicht nur das Gewicht, die Kraft, die Ausdauer. Wir benutzen den Körper nicht entsprechend seinem Design – die Atmung ist nicht natürlich, die Beine beugen sich nicht richtig, vielen Gelenken wird nicht ihr richtiger Bewegungsumfang zugestanden, der Wirbelsäule wird nicht ihre natürliche Freiheit zugestanden. Natürlich sind die Bedingungen von Individuum zu Individuum unterschiedlich, und manche Menschen entwickeln weniger Probleme als andere. Aber ein durchschnittlicher moderner Mensch hat sich weit von der natürlichen Koordination unserer Stammes- und ländlichen Vorfahren entfernt. Die zunehmende Verbreitung von Fuß-, Knie­‑, Hüft-, Rücken- und Nackenproblemen in unserer Kultur ist ein einfaches Zeugnis für diese Tatsache (ich bespreche dies ausführlicher im Abschnitt Körperarbeit).

Als ich das verstand, erlebte ich eine plötzliche Klarheit über die Alten: Sie hatten keine besondere Art zu gehen – sie waren einfach weniger korrumpiert in ihren Bewegungen als die jüngeren Generationen! Ihre Bedingungen ermöglichten es ihnen, mit Integrität zu tanzen, mit einem natürlicheren Rhythmus. Für sie war es keine Frage, wie man steht und geht. Die meisten von ihnen lernten Tango, indem sie einander beobachteten und miteinander tanzten und ihre natürliche Bewegung und Koordination zum Tanzen nutzten. Ihre guten körperlichen Voraussetzungen erlaubten es, dass ihr Tango einfach aus dem Gehen heraus „wuchs“. Menschen, bei denen das nicht natürlich geschah, haben damals keine Technik gelernt – sie haben einfach keinen Tango getanzt. In den jüngeren Generationen sind die durchschnittlichen physischen Bedingungen viel schlechter, ich habe keine*n jungen Tänzer*innen gesehen, die den Tango einfach „aufgeschnappt“ haben, ohne die Art, wie sie sich bewegen, in irgendeiner Weise zu verändern, ohne irgendeine bewusste oder unbewusste Anpassung vorzunehmen. Die einzigen, die solche Anpassungen vermeiden, sind diejenigen, die den „offenen“ Stil tanzen und dabei die Umarmung opfern, die für den Tango essentiell ist, wie ich im Abschnitt Partnerverbindung erkläre. Die meisten jüngeren Tänzer*innen sind in unterschiedlichem Ausmaß in antinatürlichen Bewegungsmustern gefangen. Zum einen entwickeln die meisten Menschen in der modernen Kultur von Kindheit an eine untaugliche Körperkoordination. Wenn man dann noch versucht, Tango unter diesen falschen Bedingungen zu lernen, ist man gezwungen, bewusst oder unbewusst alle möglichen speziellen Techniken und Anpassungen vorzunehmen, nur damit der Tanz funktioniert. Ich sah schließlich ein, dass es für mich keinen speziellen Trick zu lernen gab – im Gegenteil, ich musste einfach alle meine „Tricks“ loswerden – all die unpassenden, antinatürlichen Bewegungen. Der geheimnisvolle „Tangoschritt“ war nichts anderes als ein guter, natürlicher Gang!

All dies bedeutete, dass ich bestimmte Fragen über die richtige Grundbewegung stellen musste, die die Alten nie in Betracht gezogen hatten. Anfänglich ist ein solches Nachfragen wie das Öffnen einer Büchse der Pandora mit schmerzhaftem Selbstbewusstwerden. Als Ergebnis kann man, in den Worten eines Tai-Chi-Lehrers, einen Fall von „Paralyse durch Analyse“ bekommen. Das kann hässlich werden, wie im Fall der sagenumwobenen Raupe, die, als sie gefragt wurde, wie sie ihre vielen Beine koordiniert, keinen Schritt mehr machen konnte. Wenn man also Spaß am Tanzen hat und spürt, dass eine allmähliche Verbesserung von selbst eintritt, kann man eine solche Selbsterforschung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Ich konnte jedoch nicht darauf verzichten, denn ich war in meinen Fortschritten an eine Mauer gestoßen und konnte die Beeinträchtigungen meiner körperlichen Funktionen nicht länger ignorieren. Nach den ersten paar Jahren eines sehr entmutigenden Bewusstseins für die antinatürlichen Muster in meinem Körper begann ich, Wege zu finden, um aus ihnen herauszukommen. Letztendlich glaube ich, dass das Bewusstwerden und die Reinigung des eigenen physischen Wesens notwendig sind, damit sich diese Kunstform wirklich weiterentwickeln kann. Dieses Prinzip ist unter ernsthaften Kampfsportlern weitgehend bekannt, wird aber von den meisten Tangotänzer*innen immer noch ignoriert.

Das Aufdecken, Reinigen der ordentlichen natürlichen Bewegung und der allgemeinen Koordination des Körpers stellte sich als eine gewaltige Aufgabe heraus. Die meisten Probleme des Körpers sind untrennbar mit den Problemen in der Psyche eines Menschen verbunden (dies ist eine weitere häufig ignorierte Tatsache.) Bioenergetik-Spezialisten sprechen von „muskulären Panzerungen“, die eine Person unbewusst als Spiegelbild psychologischer Verteidigungsmuster annimmt. Solche Muster sind oft seit der Kindheit tief verwurzelt, und sie aufzulösen kann Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern. Es kann sein, dass man das Ende des Weges nie sieht. Aber jeder Schritt auf diesem Weg eröffnet neue Ebenen des Tanzens und des allgemeinen Wohlbefindens. Als ich anfing, in diese Richtung zu arbeiten, begann sich mein Tanzen stetig zu verbessern, meine Freude daran und mein Können übertrafen vieles, was ich mir vorher vorgestellt hatte. Schritte, die ich Jahre zuvor vergeblich geübt und geübt hatte, fingen plötzlich an, spontan zu entstehen. Aber noch wichtiger war, dass der Tango ab diesem Zeitpunkt eine größere Bedeutung für mich erlangte und zu einem Instrument für eine viel allgemeinere persönliche Verbesserung wurde. Es ging nicht mehr nur darum, zu lernen, wie man gut tanzt – es ging darum, zu lernen, wie man besser steht, geht, atmet, denkt, spürt und fühlt, wie ich meine ganze Art des Seins verbessern kann. Durch die Körperarbeit, die ich hauptsächlich zum Zwecke des besseren Tanzens gemacht habe, haben viele meiner chronischen Gesundheitsprobleme nachgelassen oder sind verschwunden, einschließlich Rückenverspannungen, Knieschmerzen, Fußschmerzen, Erkältungen und bis zu einem gewissen Grad sogar Allergien. Auch mein allgemeines Energieniveau hat sich deutlich erhöht.

Neben der Alexander-Technik waren die Disziplinen, die mir am meisten geholfen haben zu verstehen, wie ich an meinem Körper arbeiten kann, Nei Kung (eine Form des taoistischen Yoga) und Tai Chi Chuan. Durch das Studium dieser Künste wurde mir zunehmend bewusst, dass sich im Osten eine Vorstellung von Kunst als Instrument einer insgesamt positiven Transformation eines Individuums entwickelt hatte. Ich erkannte, dass der Tango potentiell eine ähnliche Tiefe hatte, aber es fehlte ihm sehr an Klarheit der Prinzipien. Ich verstand, dass meine Sehnsucht immer nach dem Tango als Kunstform dieser Art war, in der die Steigerung der künstlerischen Erfahrung mit der Verbesserung der gesamten Natur des eigenen Seins verbunden ist. Ich glaube, dass meine anfängliche starke Anziehungskraft zu diesem Tanz größtenteils auf meine halbbewusste Wahrnehmung dieses tieferen Potentials des Tangos, seiner breiteren kulturellen Implikationen zurückzuführen war. Bislang wird der Tango jedoch meist als eine Form der Unterhaltung gesehen – entweder als Show oder einfach als vergnüglicher Zeitvertreib. Doch obwohl viele gerne Tango tanzen würden, kommen nur wenige dazu, denn das Erlernen ist für die heutigen Generationen sehr schwer geworden. Wer erwartet, Tango zu lernen, wie man Bungee-Jumping lernt, wird eine demütigende Erfahrung machen. Frauen/Folgende können es manchmal noch relativ leicht lernen – sie haben oft natürlichere Voraussetzungen als Männer, und ihr Part ist in der Anfangsphase wesentlich einfacher. Für Männer/Führende ist es mit ziemlicher Sicherheit eine Herausforderung, die viel Geduld und Anstrengung erfordert, aber letztendlich sehr lohnend ist.1

Schließlich begann ich zu bemerken, dass mein Tanzen nicht nur durch die Art und Weise, wie ich meinen Körper benutzte, stark beeinflusst wurde, sondern auch durch die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, meine Einstellung zu meiner Partnerin, zu mir selbst und zu der ganzen Erfahrung. Ich begann zu erkennen, dass es einige allgemeine Prinzipien zur Verbesserung gibt, die in jeder Kunstform oder jeder menschlichen Interaktion wirken. Einige der Prinzipien, die ich im Tai-Chi-Kurs gelernt hatte, erwiesen sich als direkt anwendbar auf das Tangotanzen. Ich war außerdem beeindruckt, dass einige dieser Prinzipien sich mit dem deckten, was ich von den Tango-Alten gehört hatte und was ich in ihrem Tanz gesehen hatte. Andere Prinzipien wurden mir durch mein eigenes Üben und Nachdenken über die Frage nach guter Kunst im Allgemeinen und gutem Tangotanzen im Besonderen klar. Was ich bisher verstanden habe, werde ich im Abschnitt Allgemeine Grundsätze mitteilen. Anfänge eines solchen allgemeinen Verständnisses gab es in der goldenen Zeit des Tangos. Durch Gespräche mit einigen Alten wurde mir klar, dass es auf dem Höhepunkt des Tangos als Volkstanz in den 40er Jahren Vorstellungen davon gab, was gut und was schlecht getanzt wurde (siehe Abschnitt Die Alten Sprechen). Es gab auch eine Vorstellung vom Tango als einer kulturell bedeutsamen Kunstform, als Ausdruck des eigenen Wesens im Allgemeinen und der Beziehung zum anderen Geschlecht im Besonderen. Allerdings waren solche Vorstellungen von der Kunst des Tangos halbbewusst und unorganisiert. Sie formten sich nie zu einem hinreichend konsistenten und klaren Satz von Prinzipien, wie es sie zum Beispiel im Tai Chi Chuan gibt. Außerdem sind wir seither in den modernen Relativismus versunken und glauben, dass alle Arten von Tango gleich gut sind, dass alles eine Frage der persönlichen Vorliebe ist, solange sich niemand verletzt. „Nicht alles Bogenschießen ist spirituell“, – sagt Eugen Herrigel‘s Klassiker „Zen in der Kunst des Bogenschießens“. Genauso sind nicht alle Arten von Tango gleich gut. Manche Arten zu tanzen sind wie eine Sackgasse – irgendwann langweilt man sich und gibt auf. Einige andere Wege hingegen eröffnen einen Weg zu unbegrenzter Verbesserung und noch nie dagewesenen Erfahrungen.

Schließlich kam ich, teils durch Lektüre und Studium östlicher Kampfsportarten, teils durch meine eigene Kontemplation, zu dem Schluss, dass Kunst ihr höchstes Potenzial erreicht, wenn sie als Instrument der Bewusstseinsentwicklung des*r Künstlers*in eingesetzt wird. Ich fand, dass der Tango, wie viele der östlichen Kampfkünste, ein solches transformatives Potential besitzt. Ich fand auch heraus, dass die sich ständig steigernden Tanzerfahrungen aus genau einem solchen Ansatz resultieren. Das höhere Ziel der Selbstentfaltung durch die Ausübung einer Kunstform ist zum Grundprinzip meiner Praxis geworden. Es hat meine Suche nach den sich steigernden Zuständen des „Flow“ im Tanzen, meinen Sinn für „gute Kunst“ im Allgemeinen und meine Vision von der Verbesserungsrichtung im Tangotanzen im Besonderen zusammengebracht. Es hat auch viel von meiner ursprünglichen Faszination für den Tango erklärt und die Tatsache, dass er sich von Anfang an so bedeutungsvoll angefühlt hat – ich hatte sein evolutionäres Potential intuitiv wahrgenommen. Seit ich mir dessen bewusstgeworden bin, habe ich gesehen, wie gutes Tangotanzen eine allgemeinere Selbstverbesserung erfordert und anregt: Die Hindernisse, die einem guten Tanzen im Wege stehen, offenbaren größere Probleme in der körperlichen, mentalen oder emotionalen Funktionsweise eines Menschen. Indem man das allgemeine Problem verbessert, gewinnt man sowohl besseres Tanzen als auch einen freieren Gesamtzustand des Seins (mehr dazu im Abschnitt Tango und Bewusstseinsentwicklung). Eine solche Herangehensweise fördert die „Kunst ohne Kunstgriff“, bei der höhere Ebenen nicht durch eine Anhäufung von Techniken erreicht werden, sondern durch eine „Einpflanzung“ der Kunst in das Unbewusste, ein Wachstum der eigenen Fähigkeit zu spontan angemessenem Handeln.

Durch diese Herangehensweise spürte ich schließlich, wie ich mich der Qualität näherte, die mich beim Tanzen der Alten so inspiriert hatte. Ich will damit nicht sagen, dass das Tanzen der Alten das Beste ist, was man machen kann. Ich glaube, dass der Tango sich selbst grenzenlos übertreffen kann. Aber ich glaube, dass die wahre Evolution dieses Tanzes die Beherrschung des Alten einschließen muss. Wenn man das Alte einfach zugunsten des Neuen verwirft, kann man nie ganz sicher sein, dass die neuen Wege einen Fortschritt darstellen und nicht eine Degeneration der Kunstform.

All diese neu gefundene Klarheit brachte neue Aufregung und eine größere Bedeutung für mein Tanzen, aber gleichzeitig führte sie zu einer zunehmenden Frustration über meine damaligen professionellen Tango-Engagements. Ich verstand, warum der reinste Tango auf der Tanzfläche und nicht auf der Bühne zu finden war. Ich sah, dass es bei guter Kunst in erster Linie um die Erfahrung des*r Künstler*in geht, die sich dann vielleicht durch das Kunstwerk überträgt und die Betrachter inspiriert. Auf diese Weise wird die Kunst zu einem Beispiel, zu einer Metapher dafür, wie wir alle unsere Interaktionen gestalten wollen. Ich sah deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der professionellen Tänzer*innen, mich eingeschlossen, zu sehr damit beschäftigt war, dem Publikum etwas zu zeigen, etwas zu übertragen, anstatt eine authentische Tanzerfahrung zu haben und sie von selbst übertragen zu lassen. Mir wurde bewusst, wie verdorben ich geworden war, indem ich mich auf das äußere Bild oder das Ergebnis konzentrierte, anstatt auf meine Erfahrung während des Auftritts. Das war einer der Hauptgründe, warum mich die Alten so viel mehr inspiriert hatten als alle Bühnentänzer*innen – sie hatten es immer in erster Linie für die Erfahrung getan, nicht für die Show. Außerdem konnte ich, nachdem ich mir der groben Verzerrungen der natürlichen Koordination in meinem Körper bewusstwurde und wie sie gutes Tanzen verhinderten, nicht mehr so für eigene Show-Auftritte begeistern.

Auch das Unterrichten wurde schwierig, denn die meisten meiner Schüler*innen waren nicht bereit, die nötige Anstrengung in ihre allgemeine psycho-physische Entwicklung und richtige Bewegung zu investieren, während ich mich nicht bereit fühlte, diese zu lehren. Daraufhin beschloss ich, meine berufliche Tätigkeit als Tangotänzer und -lehrer zu stoppen, zumindest für einige Zeit. Ich fing wieder an Mathe und Physik in Teilzeit zu unterrichten und trainierte und tanzte in der restlichen Zeit so viel wie möglich, was das Programm ist, das ich derzeit beibehalte. Ein Nachteil dieser Situation ist, dass die Informationen, die ich im Laufe der Jahre angesammelt habe, für Interessierte nicht mehr einfach zugänglich sind. Einer der Hauptzwecke dieser Website ist es, ein einfaches Ventil für dieses Wissen zu schaffen.

Ich habe schon eine Weile darüber nachgedacht, diese Website zu erstellen. Viele Male wurde ich von dem Gedanken gestoppt, dass es angebrachter wäre, zuerst mein Tanzen auf ein ausreichend gutes Niveau zu entwickeln, um klar demonstrieren zu können, wovon ich spreche, und erst dann zu reden oder zu schreiben. Aber ich entschied mich schließlich, nicht auf diese möglicherweise ferne Zeit zu warten. Ein Grund dafür ist, dass ich einen bitteren Mangel an Klarheit und einer gemeinsamen Vision unter Tangotänzer*innen wahrnehme, und viele potentiell ernsthafte Schüler*innen scheinen genauso frustriert zu sein wie ich in der Vergangenheit. Wenn ich die Dinge schon nicht vollständig klären kann, so hoffe ich doch zumindest, eine Diskussion über die grundlegenden Prinzipien dieses Tanzes anzuregen, aus der sich vielleicht irgendwann etwas Klarheit ergibt. Zweitens hoffe ich, mehr ernsthafte Schüler*innen für den Tango zu gewinnen. Davon gibt es im Moment nicht viele – meist, so glaube ich, aus Mangel an Verständnis dafür, dass der Tango ein tieferes Potential hat, als es oft medial dargestellt wird, und auch aus Mangel an einer Idee, wie man dieses Potential verfolgen kann. Ich entschied mich, nicht zu warten, auch weil es für die Tänzer*innen, die potenziell an ihrem psycho-physischen Wesen arbeiten wollen, mit jedem Jahr schwieriger wird. Ich wünschte, ich hätte das, was ich jetzt weiß, früher gewusst, so dass ich schon in jungen Jahren in die richtige Richtung hätte arbeiten können. Man kann in jedem Alter anfangen, Fortschritte zu machen, aber je älter man wird, desto schwieriger ist es, die antinatürlichen Trends umzukehren.

Zurzeit habe ich das Glück, mehrere ernsthafte Mittänzer*innen und Partner*innen um mich herum zu haben, mit denen ich die Wege zur Verbesserung in diesem Tanz teilen kann. Aber ich würde gerne sehen, dass die Zahl der ernsthaften Tangoschüler*innen wächst, so dass einige von uns schließlich in der Lage sein werden, die Pracht dieser potenziell feinen Kunst vollständiger zu manifestieren. Auf dieser Website versuche ich, meine Vision vom Wesen dieses Tanzes darzulegen und mein Verständnis von den Prinzipien und Praktiken zu vermitteln, die am direktesten zur Vertiefung der eigenen Tangoerfahrung führen.

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1 In der Originalversion wird ausschließlich von Männern und Frauen gesprochen. Da sich die Rollenzuteilungen in den letzten Jahren jedoch immer weiter aufweichen und viele Tänzer*innen anfangen beide Rollen zu lernen und zu tanzen, werde ich im Allgemeinen Führende (Leader) und Folgende (Follower) schreiben.